Spätromanische Kapelle

Der Chorturm der ersten Deutschhauskirche
und seine „Kapelle“

Prof. Dr. Stefan Kummer

Als die Deutschherren im Jahre 1219 den einstigen Königshof (curia regia) auf dem Girsberg in Besitz nahmen, um dort ihre Würzburger Niederlassung, die spätere Komturei, zu gründen, fanden sie auch einen in den herrschaftlichen Baukomplex integrierten Sakralbau vor. Dieser dürfte ein relativ bescheidenes, romanisches Saalkirchlein gewesen sein, von dem ein Teil seiner östlichen Langhauswand in die Westmauer der tunnelartigen Unterführung zum Schottenanger einbezogen wurde, als die neue, gotische Kirche endlich, nach längerer Bauunterbrechung, vollendet werden konnte (vgl. die Ausführungen im Deutschhaus-Gemeindebrief Dez. 2003 + Jan. – Febr. 2004, S. 10-11).

Der einst zum Königshof gehörige Sakralbau ist in funktioneller Hinsicht ein Abkömmling der Pfalzkapelle, die Karl der Große Ende des 8. Jahrhunderts in seiner Pfalz zu Aachen errichten ließ. Seitdem war es üblich geworden, königliche bzw. kaiserliche Höfe und Pfalzen mit Gotteshäusern auszustatten. Der Grund hierfür ist in der allgemeinen Religiosität des Mittelalters, insbesondere aber in der mittelalterlichen Auffassung vom Gottesgnadentum und der Sakralität des königlichen bzw. kaiserlichen Amtes zu suchen. In einer Urkunde vom Februar 1224 bezeugt Kaiser Friedrich II., dass sein Vater, Kaiser Heinrich VI., und sein Großvater, Kaiser Friedrich I. Barbarossa, einstmals die curia regia auf dem Girsberg besaßen.

Vor diesem historischen Hintergrund erscheint es als geradezu selbstverständlich, dass zu dem Hof eine Kapelle gehörte. Mit Sicherheit ist sie es, die in einer vom Würzburger Bischof Hermann I. v. Lobdeburg im Jahre 1226 ausgestellten Urkunde als den Würzburger Deutschherrenbrüdern gehörige „Kapelle der hl. Jungfrau“ (Maria) bezeichnet wird. Offensichtlich diente die relativ bescheidene Königshofkapelle zunächst und in den folgenden Jahrzehnten, bevor die Deutschhauskirche errichtet wurde, als Gotteshaus der neu gegründeten Würzburger Kommende.

Um im Würzburger Stadtbild präsent zu sein, bauten die Deutschherren an ihre Marienkapelle einen ungemein stattlichen, hoch ragenden Turm an, der zweifellos in einem proportionalen Missverhältnis zu dem wesentlich niedrigeren Langhaus stand. Der Turm diente nicht allein der Repräsentation der Komturei oder – praktisch gesehen – als Glockenträger, sondern er nahm eine weitere, wichtige Aufgabe wahr: In seinem Erdgeschoss beherbergte er den neuen Altarraum des Kirchleins, der sich vermutlich einst mittels eines noch heute vorhandenen, später dann vermauerten Bogens zum anschließenden Langhaussaal öffnete. Wahrscheinlich trat der Turm an die Stelle eines älteren, ursprünglich zu dem Kirchlein gehörigen Altarhauses. Auf die frühere Nutzung des untersten Turmgeschosses als Altarraum weist unmissverständlich ein mit spät-romanischem Blattornament versehenes steinernes Gussbecken hin; es diente einst der liturgischen Handwaschung während des Abendmahls und nach der Kommunion.

Die Verbindung eines saalartigen, seltener eines mehrschiffigen Langhauses mit einem an einer der beiden Schmalseiten anschließenden Turm, der im Erdgeschoss den Altarraum, (- auch „Chor“ genannt -) aufnimmt, erfreute sich in der Stauferzeit vor allem in Schwaben, Franken und Teilen des thüringisch-sächsischen Raumes großer Beliebtheit. Sakralbauten dieser Form werden wegen der ungewöhnlichen Funktion der Türme als „Chorturmkirchen“ bezeichnet. Da dieser Bautyp überwiegend im ländlichen Gebiet auftritt, stellt das Würzburger Beispiel eher eine Ausnahme dar. Freilich wurde der Chorturmkirchentyp gelegentlich auch für Sakralbauten herrschaftlichen Charakters, nämlich für Pfalz- und Burgkapellen, gewählt, weshalb die Vermutung nahe liegt, dass solche Vorbilder den Würzburger Deutschherren vorschwebten, als sie das Königshofkirchlein mit einem Chorturm versahen.

Von besonderem Interesse erscheint in diesem Zusammenhang, dass Chorturmkirchen bevorzugt von Gefolgsleuten des staufischen Herrscherhauses und vom Adel, der die staufische Herrschaft unterstützte, gestiftet und errichtet wurden. Deshalb ist zu überlegen, ob die Umwandlung der einstigen Würzburger Königshofkapelle in eine Chorturmkirche die Verbundenheit des Bistums Würzburg und des Deutschen Ordens mit den staufischen Königen und Kaisern bekenntnishaft zum Ausdruck bringen sollte. Zu bedenken ist aber auch, dass der Chorturm eine Würdeform des sakralen Bauens war: Denn der ragende Turmbau über dem Altarhaus betont in eindrücklicher und prägnanter Weise den Ort liturgischen, sakramentalen Geschehens.

Wegen seiner Bedeutung ist der Chorturm der einstigen Deutschherrenkapelle nicht nur äußerlich, nämlich durch vor-geblendete, überschlanke Halbsäulen und dreiteilige Schallarkaden, sondern auch im Inneren aufwendig gestaltet worden: Die auf ornamentierten Konsolen ruhenden, facettierten Kreuzrippengewölbe des Altarraumes im Erdgeschoss sind ebenso wie die gleichartigen Gewölbe in den folgenden Turmobergeschossen die frühesten ihrer Art in Würzburg; sie kündigen die Gotik an.

Charakteristisch für die Zeit des Übergangs zwischen später Romanik und deutscher Frühgotik ist auch der ornamentale Blattschmuck der Gewölbekonsolen und der Säulenkapitelle, der in ähnlicher Form gegen 1220/30 am Ostchor des Bamberger Domes begegnet. All dieser Aufwand wird keineswegs, wie moderne Interpreten gerne behaupten, nur zum Ruhme des Bauherrn getrieben, sondern vor allem und in erster Linie „zum höheren Ruhme Gottes“ (ad maiorem gloriam dei).

Die 1226 erwähnte „Marienkapelle“ der Würzburger Deutschherren wurde am Ende des 13. Jahrhunderts durch die ab etwa 1270 erbaute, noch heute bestehende hoch-gotische Kirche ersetzt. Abgesehen von dem erwähnten Langhausmauerrest hat sich von der einstigen Chorturmkirche nur der nach 1219 errichtete mächtige Turmbau erhalten. Nachdem das ehemalige Langhaus verschwunden und der zu diesem geöffnete Bogen des Altarhauses vermauert war, verlor der Altarraum im Turm-Erdgeschoss seine sakrale Funktion.

Sieben Jahrhunderte dem Kult entzogen, wird er nunmehr als „Turmkapelle“ wieder liturgischen Zwecken zugeführt. Diese ist fortan nicht mehr allein Denkmal einer glanzvollen Vergangenheit, sondern auch – und hoffentlich in zunehmendem Maße – Zeugnis gegenwärtigen christlichen Gemeindelebens.

 


 

Aus dem Einladungsschreiben zur Eröffnung der „romanischen Kapelle“:

Detlev Graf v. der Pahlen, Pfarrer und Prof. Dr. Gert Naundorf, Vertrauensmann

„Wir danken unserem Herrn und Gott, dass die nervenaufreibenden, jahrelangen Verzögerungen, Beratungen und Mühen hinter uns liegen und die Kapelle ihrer Bestimmung übergeben werden kann. Wir danken all den vielen, die durch ihre geistigen und materiellen Beiträge die Einweihung möglich machen.

Die „romanische Kapelle“, die auch schon Friedrich Barbarossa und Beatrix von Burgund als Chorraum einer Pfalzkirche (auch zur Hochzeit?) gedient haben könnten, steht nun für Gottesdienste und Andachten mit kleinen Gruppen zur Verfügung, ebenso dem religiösen Leben des Deutschhausgymnasiums, Betern und natürlich auch kunst- und baugeschichtlich interessierten Personen und Gruppen. Möge dieses kleine Gotteshaus ein Ort lebendigen, christlichen Glaubens werden: ein Ort der Stille, der Erfahrung der Gegenwart Gottes und der Geborgenheit in Gott. Es geschehe soli Deo gloria, allein Gott zur Ehre, der uns dazu berufen hat, IHN zu lieben und unsere Nächsten wie uns selbst.